Theo Bank:

ein Lumpensammler

Ich heiße Bank, Theo, Kriminalobermeister im Brandermittlungsdezernat.

Eineinhalb Tage nach dem Feuer machte ich mich auf den Weg nach Tarrafal, um nach einem Brandstifter zu fahnden oder nachzuweisen, daß es keinen gab.

Tarrafal... Ein ungewöhnlicher Ortsname, ein Kolibri unter gewöhnlichen Hausspatzen. Ein kleines Inseldorf. Ich rechnete nicht mit einer besonderen Sache.

Tarrafal wurde ein ungewöhnlicher Fall.

Ich bin ein nüchterner Mensch, der den Tatsachen nachjagt. Bei den Ermittlungen in Tarrafal erfuhr ich wenig über einen Brandstifter, aber viel über Menschen.

Kriminalistik, wie ich sie betreibe, bietet nichts Abenteuerliches und Geheimnisvolles, wenn man davon absieht, daß das Gesicht eines Täters lange Zeit und manchmal für immer ein Geheimnis bleiben kann.

Mit einem Revolver fuchtle ich nur auf dem Schießstand herum. Sonst brauche ich keine Waffe. Ich bin mehr ein Reisender, der andere mit Fragen belästigen muß: mit wichtigen Fragen, nebensächlichen Fragen, Wiederholungs- und Fangfragen. Man belügt mich, man verschweigt mir, man sagt mir die halbe oder auch die ganze Wahrheit, und ich wehre mich dagegen mit den Tricks und Finten, die man in meiner Branche lernt. Nur selten sieht jemand in mir den Menschen, der Freunde sucht, Blumen liebt und angelt.

Man könnte mich einen Lumpensammler nennen; denn ich suche auf zahlreichen Wegen viele Informationen wie alte Lumpen zusammen. Ich beschnüffle und sortiere, ich trenne Wichtiges vom Unwichtigen, ordne, tausche aus, werfe weg, lege immer wieder ein neues Muster. Bis ich einen Flickenteppich menschlicher Irrtümer, Narrheit und Niedertracht zusammengestückelt habe. Man erwartet, daß meine gesammelten Geschichten wahr sind. Aber nicht selten erzählen sie nur die halbe Wahrheit.

Eine neue Geschichte begann, von der ich nur das Ende in meiner Aktentasche bei mir trug. Den Anfang und die Mitte mußte ich suchen.

Der Eisenbahndamm zersägte Wasser und Land in zwei Hälften, die einander glichen. Das stumpfe Grau einer Wattenlandschaft im Oktober zog an meinem Abteilfenster vorbei. Ein paar Rotschnäbel storchten auf Streichholzbeinen durch den Schlick. Hier und da faulenzte eine Möwe auf den Buhnenköpfen. Ein leiser Wind rillte die Pfützen, die das fliehende Wasser zurückließ. Bleifarbene Wolken quollen am Nordhorizont, um frühe Dunkelheit und neuen Wind anzukünden.

Ich sah, aber meine Gedanken wollten sich nicht mit der Landschaft beschäftigen. Sie eilten dem Zug voraus, einer Aufgabe zu, die für mich fast immer mit einem Gespräch in einem fremden Amtszimmer begann, mit verkohlten Balken weiterging und mit einem Schlußbericht endete. Eine neue Bekanntschaft stand mir bevor: Ich lernte endlich eine

Insel kennen. Bisher war ich nicht weiter als bis an die Küste gekommen.

Kommissar Melchior, mein Vorgesetzter, hatte mich in seiner hastigen und ironischen Art mit meiner Aufgabe bekanntgemacht.

„...setzen Sie sich getrost auf die Bahn, Bank. Ein romantisches Inseldorf erwartet Sie — malerische Reetdachhäuser, von malerischen Steinwällen und malerischen Heckenrosen umgeben. Alles malerisch — auch die Preise, die die Feriengäste zahlen müssen. Nichts für Familienväter mit Kindern und normaler Brieftasche. Nun, Sie reisen ja dienstlich. Dann gibt es zwei Schönheitsfehler: eine Brandstiftung — mögliche Brandstiftung! — und eine Leiche. Und einen Haufen Gerüchte.“

Er schob mir einen bräunlichen Din-A4-Umschlag über die Schreibtischplatte zu und verabschiedete mich: „Sie werden wieder mal Tatsachen suchen müssen, die unter der Oberfläche schwimmen. Sehen Sie zu, Bank, was Sie herausfinden können. Falls Sie Hilfe brauchen, fordern Sie welche an. Ach so — die Obduktion habe ich telefonisch vorbereitet. Der Pathologe kommt morgen vom Festland herüber.“ Mögliche Brandstiftung und ein Toter!

Ich suchte den braunen Umschlag aus meiner Aktentasche heraus, um zum zweitenmal durchzulesen, was der Polizeiposten Tarrafal gemeldet hatte.

...Am 14. Oktober 1972 brannte in der Gemeinde Tarrafal das Anwesen des Pensionärs Peter Wulf Sönderup bis auf die Grundmauern ab.

Der Feueralarm wurde um 23 Uhr 47 gegeben. Die Person, die ihn auslöste, konnte nicht ermittelt werden.

Sönderup kam in den Flammen um. Nach Aussagen seiner Ehefrau Christine, die sich nur in Nachtbekleidung aus dem brennenden Gebäude retten konnte, wollte ihr Mann noch versuchen, eine Kassette mit Geld und Papieren zu bergen. Das Schadenfeuer breitete sich, durch die herrschenden Windverhältnisse bedingt (Westwind, Stärke 5 bis 6), derartig schnell aus, daß keine Hilfe für Sönderup möglich war. Ebenfalls wurde kein Mobiliar gerettet. Den eingesetzten Feuerwehren (eine Ortswehr, zwei Wehren aus der Umgebung) gelang es nur unter vollem Einsatz, die in Windrichtung liegenden Nachbarhäuser vor Funkenflug und dem Übergreifen der Flammen zu bewahren.

Die Leiche des P. W. Sönderup konnte erst am Morgen nach dem Brand geborgen werden. Sie wurde zur Obduktion in die hiesige Kapelle gebracht. Fundort der Leiche im Mittelteil des Hauses, etwa dort, wo sich ehemals die Treppe zum Dachgeschoß befand.

Verdacht auf Brandstiftung muß angenommen werden. Der verstorbene Sönderup erhielt auf ungewöhnlichem Wege in einem Zeitraum von sechs Wochen vor dem Brand drei Karten, die als Feuerdrohung angesehen werden können. Die erste Karte am 28. August, eine zweite am 3. Oktober, die letzte am 11. Oktober drei Tage vor der Katastrophe.

Diese Karten — es handelt sich um weiße Standardkarten — sind mit der Darstellung eines roten Hahns bedruckt, die als Kartoffeldruck anzusprechen ist. Alle Karten waren in Schlitzen von Rohrpfeilen eingeklemmt (im hinteren Drittel) und wurden im Mittelteil des Sönderup-Hauses nahe dem Giebel im Dach steckend aufgefunden. Zwei Karten konnten von mir sicher ge stellt werden, als mich S. bald nach dem Fund benachrichtigte. Eine Karte, die erste vom 28.8., wurde von S. vernichtet, wie er mir gegenüber angab. Über die Person eines möglichen Täters kann ich keine Angaben machen.

gez. Tackert

Polizeiobermeister

Dem nüchternen Bericht war noch eine Notiz beigefügt, locker mit einer Heftklammer angeheftet, um sie von den Tatsachen einer amtlichen Meldung zu trennen. In ein paar handschriftlichen Zeilen teilte Polizeiobermeister Tackert mit, daß Gerüchte im Dorf umliefen, die auf einen vierzehnjährigen Jungen abzielten. Er sei verpflichtet, das Dezernat davon in Kenntnis zu setzen, betone aber, daß es sich hierbei um unbewiesenes Dorfgeschwätz handle. Das alles stand in einer groben, ungelenken Handschrift auf dem Papier, als sei es dem Schreiber widerwärtig, derartige Mitteilungen zu schreiben.

Mit diesem Wissen setzte man mich auf die Fährte. Ich mußte nun die Lücke in Tackerts Bericht ausfüllen. Ich sollte einen Täter finden und die dazugehörige Geschichte. Ein jugendlicher Täter möglich...

Das war genau die Möglichkeit, die mir am wenigsten gefiel. Einem Jugendlichen ist Brandstiftung ebensogut zuzutrauen wie einem Erwachsenen — das hat mir die Praxis bewiesen. Ich erlebe es oft genug, und ich kann mir keine betuliche Rücksichtnahme und kein empfindsames Gemüt in meinem Beruf leisten. Trotzdem fällt es mir schwerer, die Rattenfängermethoden, die Kniffe, die Fußfallen und die gezuckerten Worte bei Kindern anzuwenden als bei Erwachsenen. Aber ich wende sie an. Ich habe einen Täter zu finden... wenn es einen gibt.

Dem Zug entstiegen nur wenige Reisende, alle in Mänteln. Der Oktober hatte die fröhlichen Farben der Sommerkleider aus dem Verkehr gezogen.

Von jetzt an begleiteten mich Steinwälle und Heckenrosen, versteckte Giebel und Reetdächer, niedrige Mauern, klein-quadratige Fensterscheiben und Türen, deren altehrwürdige Machart in Kunststoffarben glänzten. Melchior hatte nicht zuviel versprochen.

Mit meinen Erkundigungen nach der Polizeiwache hatte ich weniger Glück.

Der erste, den ich fragte, war Gast, kannte sich nicht im Ort aus. Täte ihm leid... Eine ältere Frau, die vornübergeneigt ging und ein Tuch um die Mundpartie geschlungen hatte, bedeutete mir durch Zeichensprache, daß man ihr gerade alle Zähne gezogen hatte. Sie konnte nicht reden... Der dritte wußte es, ein Mann mit blaurotem Gesicht. „Geradeaus bis zur zweiten Kreuzung, rechte Querstraße, linke Seite, zweites Haus.“ Er hob zusätzlich noch seinen Handstock, streckte ihn wie einen Wegweiser in die Richtung, als traue er mir zu, daß ich sonst im Kreis herumirren würde.

Er wuchtete sich hinter seinem Schreibtisch hervor, stampfte auf mich zu, zerquetschte mir fast die Hand und dröhnte: „Tackert!“

„Bank.“

Er war ein Goliath und lächelte wie ein Kind. Seine Stimme schien aus einem Kanalisationsschacht zu kommen. Auf einem Fahrrad mußte er eine komische Figur abgeben, und der grünweiße Polizeikombi vor dem Haus ging bestimmt in die Knie, sobald er sich hinter das Steuer wälzte. Aber inmitten von ängstlichen und ratlosen Menschen würde er ein Fels in der Brandung sein.

Wir gingen in seine Privatwohnung hinüber, um ungestört und bei einem Cognac — einem guten, wie er mir versicherte — , unsere Sache zu bereden. Zuerst kamen die Sätze, die man so herausplätschert, wenn zwei Kollegen der gleichen großen Berufsfamilie sich zum ersten Mal treffen. Ich erfuhr, daß er aus einer Gegend südlich der Elbe hier angeschwemmt worden war und bereits zwölf Jahre lang seinen Dienst in Tarrafal versah. Bisher ohne einen Fall von Brandstiftung, wie er betonte. Er wolle bis zu seiner Pensionierung hierbleiben — lieber verzichte er auf Beförderung. Die Inselsprache, in der die Einheimischen immer noch kauderwelschten, habe er nicht lernen können. Trotzdem käme er mit den Leuten gut zurecht. Verheiratet, ein einziges Kind, ein Mädchen. In der Saison rücke man zusammen, damit die Frau an Feriengäste vermieten könne. Das täten hier alle — er lächelte entschuldigend.

Danach kamen wir zur Sache. Er fischte eine lange Pappröhre aus der Ecke, zog den Deckel ab, schüttelte den Inhalt auf den Tisch.

„Zwei Pfeile, zwei Karten mit roten Hähnen — das ist alles, was ich in der Hand habe“, sagte er. „Die Leute haben ein Schreckgespenst daraus gemacht, das von Mal zu Mal unheimlicher wurde. Geheimhalten läßt sich in diesem Dorf nichts“, fügte er gespielt grimmig hinzu.

Zwei rote Hähne! Bis jetzt die einzigen Zeugen dafür, daß mehr als ein Unglück vermutet werden konnte: Verdacht auf Brandstiftung.

Ich hatte nun die stummen Zeugen zu befragen, mußte an ihnen herumrätseln: Fingerabdrücke? Bestimmt zu viele! Würde kaum weiterhelfen. Nach dem Schützen waren Pfeile und Karten wahrscheinlich von vielen Händen berührt worden: von Sönderup, seiner Frau, den Nachbarn. Auch Tackert hatte sie in der Hand gehabt. Und Peter Sönderup konnte mir nicht mehr mitteilen, wem er diese Dinge gezeigt hatte.

„Hat Sönderup Ihnen erzählt, wem er diese Rote-Hahn-Pfeile noch zeigte?“

„Das hat er nicht. Aber es ist wahrscheinlich, daß er sie anderen zeigte. Mich benachrichtigte er erst zwei Stunden nach den Funden.“

Trotzdem! Ich machte mich mit meinem Reisebesteck an die Arbeit. Tackert beobachtete mein Tun, als hätte er einer Zigeunerin auf die Finger zu schauen.

Ich hatte ein Netzwerk von Fingerabdrücken erwartet — besonders auf den glatten Karten. Aber was ich auch erwartete, das nicht: keine Abdrücke!

„Gar nichts!“ sagte ich und schaute Tackert verblüfft an. „Es hätten doch Fingerabdrücke drauf sein müssen. Abgewischt!“

„Versteh ich nicht“, sagte Tackert hilflos.

„Ich auch nicht“, gab ich wahrheitsgemäß zu.

Wann und warum? Alle Abdrücke abzuwischen entbehrte der Logik — wenigstens im Sinne des Täters. Wann? Bevor Sönderup seine Funde an Tackert weitergab? In Tackerts Amtszimmer? Unwahrscheinlich!

„Sie haben die Sachen doch unter Verschluß gehabt?“

„Natürlich“, bestätigte er, „drüben im Schrank meines Amtszimmers. Den Schrank hielt ich immer verschlossen, wenn ich nicht im Zimmer war. Ich habe die Pappröhre erst kurz vor Ihrer Ankunft herausgenommen und in diesem Raum bereitgestellt.“

Ich wollte später darüber nachdenken. Vorläufig war es für mich das zweite Anzeichen dafür, daß etwas faul war. Die Pfeile. Ich schob sie mit den Fingerspitzen nebeneinander. Fast gleich lang, etwa achtzig Zentimeter, schätzte ich. Bei beiden hatte der unbekannte Hersteller einen Nagel als Spitze eingeschoben. Jeder — gleich ob Kind oder Erwachsener — konnte ohne Mühe einen solchen Rohrpfeil in kurzer Zeit zusammenbasteln. Das Material war überall zu finden. Für den Bogen zum Schießen nahm man einen biegsamen Weidenstock und ein Stück Bindfaden als Sehne — leicht zu beschaffen. Und Schilfhalme gab es in diesem Dorf übergenug.

Der Pfeil vom 11.10., durch einen Klebezettel markiert, unterschied sich in einer Kleinigkeit von dem anderen: Ihm fehlte die Kerbe, die jeder Junge anschneidet, um seinem Pfeil die rechte Führung auf der Bogensehne zu geben. Zufall…?

„Es könnte bedeuten, daß dieser Pfeil nicht von einem Bogen abgeschossen wurde.“

„Könnte! Aber auch ohne Kerbe läßt sich ein Pfeil abschießen, wenn ein großes Hausdach ein Ziel ist, das man von der Straße aus kaum verfehlen kann.“

Es war wohl zu früh, mit Kleinigkeiten herumzujonglieren, wenn man noch so wenig Überblick hatte wie ich.

Ich nahm mir die beiden Karten vor, legte sie nebeneinander: Hähne mit aufgerissenen Schnäbeln und zwei gespreizten Schwanzfedern. So wie sie da auf ihren Papierrechtecken lagen, flockig rot, mit unscharfen Rändern, so etwa hatte ich den Kartoffeldruck aus meiner Schulzeit in Erinnerung.

„Könnten Sie die Umrisse eines Hahns aus einer Kartoffel herausschnippeln?“

„Bewahre!“

Tackert legte seine beiden Hände auf den Tisch. „Ich? Mit meinen Kohlenschaufeln? Nicht mal in Wochen würde ich das fertigbringen!“

„Kinder können es“, sagte ich.

„Warum wollen Sie unbedingt auf Kinder hinaus!“ wandte Kollege Tackert knurrend ein. „Es gibt genügend Erwachsene mit geschickten Fingern. Sie waren auch mal Schulkinder. Oder sie könnten ihren Kindern zugeschaut haben.“ Ich nickte zustimmend, war aber nicht überzeugt.

Die rechte Karte gehörte zu dem Pfeil ohne Kerbe. Dieser Hahn unterschied sich erheblich von seinem Nachbarn. Zwar war die Größe fast gleich, doch Hahn Nr. 2 zeigte plumpere, ja, ungeschicktere Umrisse und eine schmutzig-fleckige Rotfarbe.

„Warum zwei verschiedene Hähne?“ Ich stellte die Frage gleichermaßen an mich wie an Tackert.

„Meine Tochter hat sich mal darüber beklagt, daß Kartoffeln schnell austrocknen und dann als Druckstempel nichts mehr taugen“, sagte er. „Man muß eine neue Kartoffel zuschneiden, und damit wird der Druck ganz anders.“

„So?“ sagte ich.

Tackerts Erklärung hörte sich gut an. Aber... Warum druckte der unbekannte Drucker nicht mit der ersten Kartoffel genügend Karten auf Vorrat? Warum? Ein Drucker und zwei verschiedene Kartoffeln? Oder zwei verschiedene Drucker mit je einer Kartoffel? Ein Kind? Ein Erwachsener? Komisch, wenn man als Kriminalist über Kartoffeln nachdenken mußte...

Jetzt wollte ich etwas über Markus Unschlitt erfahren. „Zu diesen Gerüchten, Herr Tackert. Was ist dran? Was können Sie mir über Markus Unschlitt berichten. Sie nannten den Namen...“

„Ja, ich nannte ihn. Aber nicht gern.“ Tackert machte ein unglückliches Gesicht, und der Sessel ächzte unter seinem Gewicht, als er sich nach vorn beugte. „Sie wären ohnehin auf dieses Gerede gestoßen. Gerüchte, wie sie in jedem Dorf umlaufen, wenn — wenn solche Dinge passieren. Ich glaube nicht daran. Dieser Junge, der Markus, hat einen schweren Schock erlitten: Vor einem halben Jahr nahm sich sein Vater das Leben! Seitdem ist der Junge völlig umgekrempelt, wird nicht damit fertig. Die Mutter übrigens auch nicht. Sie kränkelt, zieht sich vom Leben zurück, soviel ich weiß. Und aus all dem machen die Leute dann...“

„Von Anfang an“, bat ich.

Er sah mich unbehaglich an und begann: „Ich kenne sie alle, die hier im Dorf herumrennen und größer werden. Markus Unschlitt ist nur einer von ihnen. Er wurde noch in der Kinderkarre ausgefahren, als man mich nach Tarrafal versetzte. Er ist mit meiner Sylvie in einem Alter — ein Vierteljahr älter. Sie besuchen nicht die gleiche Klasse; Sylvie kam ein Jahr später zur Schule. Man sieht die Kinder heranwachsen, spricht mit der Mutter, tätschelt die Kleinen. Sobald sie laufen und krähen können, schwärmen sie aus, strolchen überall herum, und man stolpert an allen Ecken über sie. Man droht mit dem Finger; man bellt sie auch mal an. Aber ich glaube nicht, daß ich in meiner grünen Uniform jemals ein Schreckgespenst für die Kinder war. Ich wollte auch keins sein — das hätte mir meine Tochter nie verziehen. Der Dorfpolizist... Das verstehen Sie wohl nicht... Jumbo...“

„Jumbo?“

„Nichts, was Sie interessieren könnte, Herr Bank.“

Ich verstand den Kollegen Tackert besser, als er glaubte. Ich hatte auch meine Berufsprobleme.

Er lächelte verlegen und fuhr fort: „Ich habe ihnen gut zugeredet, wenn sie ihre Feuerchen an den falschen Plätzen machten. Genützt hat es nicht. Ich habe sie nach Hause geschickt, wenn sie zu spät noch im Dunkeln herumstreunten. Ich habe auf die andere Seite geschaut, wenn sie Birnen und Äpfel klauten, die doch keiner erntete. Und ich habe sie zusammengestaucht, wenn ich sie ohne Licht auf den Fahrrädern erwischte. Sie wuchsen heran, Herr Kollege, während man uns einen Stern nach dem anderen gab... Markus war gewitzter als die meisten — ein Anführer, dem man gern folgte. Meine Tochter sagt, Markus ist ein heller Kopf, der mühelos lernt. Titus Unschlitt, der Vater, war ein unsteter Mensch, dem die Leute gern verziehen. Ein Luftikus, der in keinem Beruf Fuß fassen konnte. Gab das Geld mit leichter Hand aus — manchmal mehr, als er verdiente, wurde gesagt. Es ging auf Kosten der Frau. Weibergeschichten gab es auch, aber nicht hier im Dorf. Der Junge

liebte und bewunderte seinen Vater. Und das muß zu Titus Unschlitts Gunsten gesagt werden: Mit seinem Sohn beschäftigte er sich viel, überraschend viel für einen Mann, der sich selbst der Nächste war. Sie segelten, wanderten, fischten — genau das, was Kindern Abenteuer verschafft. Ja, und dann geschah es: Titus Unschlitt erhängte sich vor einem knappen halben Jahr in Hageldorns Kastanie genau vor Peter Sönderups Wohnzimmerfenstern. Selbstmord! Nicht dran zu rütteln. Ich selber habe ihn abschneiden müssen. Warum er seinem Leben so plötzlich ein Ende setzte, weiß niemand. Aber es wurde viel darüber geredet: von Geld und Schulden bei Peter Sönderup. Gerede! Titus Unschlitt war nicht der Mann, der sich um Schulden allzu große Sorgen machte. Warum er sich ausgerechnet die Kastanie für seinen Selbstmord aussuchte, ist nicht zu erklären. Die Leute wollten Peter Sönderup eine geheime Schuld andichten. Ein Abschiedsbrief wurde nicht aufgefunden. Wucherzinsen, sogar Erpressung — die unmöglichsten Gerüchte gingen um. Ich hörte einiges, obwohl die Leute mir gegenüber vorsichtiger mit den Worten umgingen. Ich habe ihnen nahegelegt, daß sie besser den Mund hielten, wenn sie nicht eine Anzeige wegen Verleumdung riskieren wollten. Sie wissen ja selber: Gerüchte wachsen wie Unkraut; wenn man es an einer Stelle ausrupft, wuchert es zwei Schritte davon entfernt ungebrochen weiter. Niemand hat selber etwas gesagt — nur gehört. Von irgend jemand. Von wem denn noch.. ?

Wenn man nachfragt, weist ihr Gedächtnis gerade an dieser Stelle eine Lücke auf... Mir ist dieser Selbstmord unerklärlich; aber das Dorfgeschwätz trifft die wahren Gründe bestimmt nicht. Bald nach Titus Unschlitts Tod begannen diese Streiche, die man Peter Sönderup spielte: des Nachts geheimnisvolles Geklopfe, zerbrochene Fensterscheiben, einen umgesägten Birnbaum im Garten, ein Wetterhahn verschwand vom Hausdach und zuletzt dann diese Pfeile mit den roten Flähnen.“

Und zum Abschluß ein Feuer mit einem Toten! fügte ich in Gedanken hinzu.

„Erstattete Sönderup Anzeige?“ fragte ich.

„Zunächst nicht. Erst bei der Wetterhahn-Geschichte lief ihm die Galle über, und es gab eine Anzeige gegen Unbekannt.“

„Und fanden Sie etwas heraus?“

„Nichts.“

Du wirst dir auch keine sonderliche Mühe gegeben haben! dachte ich.

„Haben Sie Markus Unschlitt befragt?“

„Ja. Markus behauptet fest, er sei es nicht gewesen.“

„Glaubten Sie ihm?“

„Ich konnte ihm nichts nachweisen. Also mußte ich ihm glauben“, sagte Tackert steif. „Kriminalistische Recherchen sind nicht meine Stärke. Sie wissen ja — ich bin bloß Dorfpolizist.“

„Schon gut“, besänftigte ich ihn.

Die Tür ging auf, und ein zierliches Mädchen wehte ins Zimmer. Sie hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf. „Vati, ich brauche Geld für einen Zeichenblock.“

„Meine Tochter Sylvie.“ Tackert sagte es zärtlich. Dann wühlte er in seiner abgegriffenen Börse herum und legte ihr ein Geldstück in die Hand. Das Mädchen ließ ihre flinken Augen herumgehen — über den Tisch mit den ausgebreiteten Gegenständen, über mich. Dann hauchte sie dem Riesen einen Kuß in den Nacken, nickte mir zu, tänzelte wieder hinaus. Ich nahm meinen Faden wieder auf.

„Was wissen Sie über Sönderup?“

„Er war ein Außenseiter, mit dem das Dorf nicht recht fertig wurde. Ein Sonderling, der sich wenig um andere kümmerte. War meistens schroff, konnte aber auch überraschend liebenswürdig sein. Eigentlich kein Ekel, jedenfalls habe ich ihn nicht für eins gehalten. Sönderup ist in jungen Jahren von einer Nachbarinsel herübergekommen und wurde von einem kinderlosen Ehepaar adoptiert. War Sparkassenleiter, als solcher nicht beliebt, aber ungewöhnlich tüchtig in seinem Fach. Spekulierte glücklich in Aktien, wurde immer gesagt. Er vermietete nicht an Sommergäste

— das gilt in Tarrafal als Zeichen für besonderen Wohlstand. Selbst Polizisten vermieten... Ich sagte es ja. Alles zusammen: Ein Mann, der sich nicht seiner Umgebung anpaßte, der gegen den Strom schwamm und darum Gerede und Neider auf sich ziehen mußte. Seine Frau ist ein stilles, mausgraues Frauchen, das in seinem Schatten welkte. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Hatte Sönderup Feinde? Gibt es Menschen, die Grund hatten, ihn zu hassen? Streit? Ernsthafte Meinungsverschiedenheiten?“ Ich schoß eine Serie von Fragen ab, die ich immer wieder stellte.

Die Fragen behagten Tackert nicht. Die Kaumuskeln bewegten sich in seinem klobigen Gesicht, während er sich seine Antworten zurechtlegte. Er rauchte umständlich eine Zigarre an.

„Ich kann Ihnen keine Namen nennen. Nicht für einen ernsthaften Feind. Sie...“ Er zögerte, als sei es ihm widerwärtig, kleine Dorfgeheimnisse an Fremde weiterzugeben. Ich war für ihn ein Fremder. „Sie werden es wohl von anderen hören, daß Peter Sönderup und Niklas Hageldorn sich nicht gewogen waren. Dabei ging das wohl mehr von Sönderup aus. Jeder nannte den anderen einen alten Narren — dabei waren beide keine. Sönderup betrat den Laden seines nächsten Nachbarn nicht. Es gab einen Streit zwischen den beiden um eine Straßenlaterne. Jeder wollte sie auf seiner Straßenseite aufgestellt wissen: Sönderup an der Ecke, Hageldorn in Höhe seines einzigen Schaufensters. Man fand einen Mittelweg: auf Sönderups Straßenseite vor Hageldorns Schaufenster. Wollen Sie daraus eine wirkliche Feindschaft konstruieren? Ich nicht.“

„Merkwürdig, daß niemand den Feueralarm ausgelöst haben will“, sagte ich. „Vielleicht war’s der Brandstifter selber. Aus Angst oder Schrecken über das, was er tat, gab er Alarm. Oder er kalkulierte die Wirkung des Windes ein und wußte genau, daß Sönderups Haus nicht mehr zu retten sein würde. Später verschwieg er diese Tatsache, weil er nicht zugeben konnte, daß er in der Brandnacht auf der Straße war.“

„Mag sein“, sagte Tackert. „Ich habe überall herumgefragt und nichts herausgefunden. Vielleicht haben Sie mehr Erfolg.“

Zwölf Jahre Polizist in einem Ort! Seine Tochter wuchs hier auf. Er spielte Skat und kegelte mit ihnen... Da konnte man nicht so mißtrauisch sein wie ein ortsfremder Kriminalist.

Ich wollte noch einmal in den Ameisenhaufen hineinstochern, auch wenn es ihm nicht paßte.

„Herr Tackert“, sagte ich, „über ,glauben’ haben Sie mir schon Ihre Meinung gesagt. Trotzdem: Halten Sie es für möglich, daß Markus Unschlitt das Feuer gelegt hat?“

„Ich habe alles berichtet, was ich verantworten konnte. Ich weiß, was man von mir erwarten darf. "Was nun kommt, ist Ihr Geschäft, Bank. Damit habe ich nichts zu schaffen.“ Er ballte die Fäuste, daß sie wie knorrige Baumstubben zwischen uns auf der Tischplatte lagen. „Ich hoffe, daß es nichts anderes als ein Unglück war! Daß es keinen Brandstifter gibt! Und wenn nicht, daß Sie einen Brandstifter von wer-weiß-woher beschaffen — nur nicht aus Tarrafal. Gut, ich bin Polizist — Hüter der Ordnung... Ach, machen Sie daraus, was Sie wollen!“

Er möchte nicht, daß Markus Unschlitt verdächtigt wird, dachte ich. Er hat meine Frage umgangen, nicht beantwortet. Warum? Verschwieg hier der eigene Mann schon etwas? Komische Situation, wenn der Kollege einen Funken Mißtrauen entzündete.

Ich ließ mir eine Liste von Namen geben, die es lohnte zu befragen: Hageldorn, Sellmer, Küppers. Und Unschlitt natürlich. Gesichter, die ich sehen wollte, Stimmen, deren Glaubwürdigkeit ich prüfen mußte.

Zuerst benötigte ich eine Unterkunft — nicht zu teuer, wenn es ging. Ich versuchte mit meinen Spesen auszukommen. Als ich Tackert um Rat bat, druckste er etwas herum, sagte, bei ihm leider nicht... Weil sich noch ein Gast für die späte Jahreszeit angesagt hatte, einer, der jedes Jahr käme... Sonst wäre ich in seinem Hause willkommen gewesen. Ich hätte das Angebot ohnehin abgelehnt. Ich will unabhängig sein, wenn ich unterwegs bin.

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Schließlich sagte Tackert: „Am besten, Sie fragen mal bei Lene Steenkamp an. Ihr altes Haus steht am Ostende des Dorfes — ein sehenswertes Haus, auch von innen. Und eine bemerkenswerte Frau, klug, aber nicht leicht mit fertigzuwerden. Raucht Zigarren, spielt einen brillanten Skat, ist die lebende Chronik von Tarrafal. Was sie nicht weiß, werden Sie nirgendwo erfahren — nur fragt sich, ob sie reden will. Wenn Lene Steenkamp aus Tarrafal Gefallen an Ihnen findet, Herr Bank, werden Sie wie im Himmel wohnen und Ihre Spesen sparen.“

Polizeiobermeister Tackert lächelte hintergründig.

Na gut! Ich verabschiedete mich und ließ mir den Weg zur Brandstätte beschreiben. Die wollte ich noch in Augenschein nehmen, bevor ich diese Lene Steenkamp aufsuchte. Seine Begleitung lehnte ich ab.

Es ist immer dasselbe: Ich komme, wenn alles passiert ist. Kalter Brandgeruch, der überall zu kleben scheint, leitet mich an den Tatort. Verkohlte Balken, zerborstenes Glas, geschwärzte Mauerreste—Zerstörung erwartet mich. Manchmal auch Menschen, die mit rotverquollenen Augen immer noch in den Trümmern herumstochern, oder obdachlose Katzen, wie hier.

Ein Kater mit dickem Kopf und krummem Buckel hockte auf einem Baumstumpf und starrte dorthin, wo vor zwei Tagen noch sein angestammter Katzensessel gestanden hatte. Als ich näherkam, sprang er ab und hinkte entlang dem Gerippe einer verkohlten Buchsbaumhecke davon.

Das Feuer hatte alles vertilgt, was in seiner Reichweite gewesen war.

Mein Blick streifte den Baumstumpf, den der Kater geräumt hatte: eine Schnittfläche, noch hell, nicht sehr alt. Der umgesägte Birnbaum im Garten! Lieferte ein Erwachsener einen solchen Streich? Unwahrscheinlich! Es sei denn, er wollte den Streich eines Jugendlichen vortäuschen. Möglich war alles. Andererseits mußten Feuer und Streiche nicht unbedingt zusammenhängen, auch wenn sich einem der Gedanke aufdrängte.

Es ging stark auf den Abend zu. Lange wollte ich mich nicht an diesem Platz aufhalten. Trümmer und Brandgeruch regen meine Gedankenarbeit nicht an. Brandstätten sind mehr eine Fundstätte für Spezialisten der Technik und der Feuerwehr, die eine Brandursache heraussieben — oder auch nicht.

Ich habe mich mit Menschen zu befassen, mit dem, was sie sagen und ob sie die Wahrheit sagen.

Niemand zeigte sich in meiner Nähe, und doch glaubte ich zu spüren, daß ich von verborgenen Augen beobachtet wurde. Im Haus, das an den Garten grenzte, wedelte die Gardine des Eckfensters. Gegenüber, über die Straße hinweg, drängten sich zwei undeutliche Gesichter hinter dem Glas der Ladentür. „Niklas Hageldorn — Kolonialwaren“ verkündete ein Schild über dem schmalbrüstigen Schaufenster. Feriengäste würden diesen Kramladen gewiß „entzückend“ nennen. Ob der Mann immer noch Salzheringe aus dem Faß verkaufte oder Grüne Seife aus der Tonne?

Ich war jetzt drei Stunden in Tarrafal, lange genug, um von Haus zu Haus zu signalisieren: Einer von der Kripo ist da! Wohlige Schauer der Spannung und Neugierde rannen ihnen über die Rücken. War einer dabei, bei dem sich Neugier mit Furcht mischte?

In Tarrafal ist nichts geheimzuhalten... Polizeiobermeister Tackert wußte, was er sagte. Aber irgend jemand bemühte sich, sein Tun geheimzuhalten. Und bis jetzt war es ihm auch gelungen.

Der Baumriese gegenüber schob seine Äste fast über die halbe Straßenbreite: Hageldorns Kastanie, der Unglücksbaum! Vierzig Meter von mir entfernt hing vor einem halben Jahr ein Mensch an einem Strick. War das der Ausgangspunkt?

Ich wanderte langsam um das Trümmerfeld herum, suchte mir wie ein ungeübter Bergsteiger einen Weg durch das herumliegende Geröll. Und ich spielte die Rolle, die meine heimlichen Zuschauer von mir erwarteten: Der Kriminalist sucht Spuren! Ich blieb stehen, schaute mit schiefgeneigtem Kopf hierhin und dahin, beugte mich hin und wieder ruckartig nach unten, stocherte, schob Trümmer beiseite, hob etwas auf, betrachtete lange....Er hat was gefunden! Was bloß?

Ich fand etwas: roten Mohn! Ein Bild mit rotem Mohn hinter Glas — unbeschädigt. Ein Indiz dafür, daß unerklärliche Zufälle ein Ding unversehrt aus einer Feuerhölle entrinnen lassen können. Das war meine ganze Ausbeute. Ich hatte meinen Rundgang gerade beendet, als quer durch den Garten ein langer dünner Mann auf mich zu eilte. Er kam aus dem Haus mit der wedelnden Gardine. Ich ging ihm nicht entgegen. Leute, die von allein kommen, soll man kommen lassen.

„Küppers ist mein Name, David Küppers. Chef der hiesigen Feuerwehr“, flüsterte er atemlos. „Sie sind doch von der Kriminalpolizei. Stimmt’s?“ Er rückte unangenehm nahe an mich heran, als sei ich sein Mitverschwörer.

„Ja“, sagte ich, „Bank. Vom Brandermittlungsdezernat.“ Als Feuerwehrchef war ihm meine Dienststelle bekannt. Wir arbeiten, was die Brandursache angeht, mit den Feuerwehren zusammen. Er wußte ebenfalls, daß einer von uns baldmöglichst in den Brandort geschickt wurde. Nicht schwer zu erraten, daß ich derjenige war. Von den Dorfbewohnern würde wohl kaum einer nachdenkliche Rundgänge um eine kalte Brandstätte machen.

Küppers stand auf meiner Liste. Er kam von selber, ohne daß ich ihn rufen oder aufsuchen mußte. Er redete gern, fand ich bald heraus.

„Floren Sie, wir von der Feuerwehr haben bei unserer Untersuchung nichts gefunden, und wir wissen, wonach wir suchen müssen. Verlassen Sie sich drauf! Flab’ solch ein Feuer noch nie erlebt! Ein Vulkan, war nicht zu stoppen, und meine Leute sind erstklassig. In einer guten Viertelstunde war alles vorbei. Mein eigenes Haus wäre fast draufgegangen — Funkenflug, verstehen Sie...“ Er zog den Kopf zwischen die mageren Schultern, um ihn dann schlangengleich wieder vorzuschnellen. „Wenn Sie meine Meinung wissen wollen: Ich sage trotzdem Brandstiftung! Und zwar eine ganz raffinierte.“

„Ihre Meinung ist mir sehr wertvoll“, bemerkte ich glattzüngig. Solche Leute mußte man zum Reden ermuntern; manchmal fand sich etwas Brauchbares zwischen vielen überflüssigen Worten. „Sie sind doch Fachmann, Herr Küppers. Warum tippen Sie so sicher auf Brandstiftung? Ihre Goldgräberei hat doch keine Beweise dafür erbringen können, wie Sie selber sagten.“

„Goldgräberei? Ach, so...“ Er lachte meckernd, hörte aber nach einem Augenblick auf, als sei es unpassend, in Gegenwart verkohlter Balken zu lachen.

„Na, wissen Sie“, zischelte er vertraulich. „Drei rote Hähne auf Peters Hausdach und nach dem dritten brannte es — reicht das etwa nicht?“

„Vielleicht — “, murmelte ich unverbindlich. Von den roten Hähnen waren meine Brandstiftungs-Überlegungen auch ausgegangen.

Nur reichte mir das nicht! Von mir erwartete man mehr als bloße Vermutungen.

Ob er Sönderup gut gekannt, die Pfeile und die Karten gesehen, sie in der Hand gehalten habe?

Natürlich, natürlich — sogar alle drei. Eine Drohung, sonnenklar. Scheußlich, daß sie eintraf...

Wie es mit der ersten Karte gewesen sei? Ob die Abbildung des roten Hahns der auf der zweiten oder der auf der dritten Karte geglichen hätte?

Was für komische Fragen ich stellte... Hahn sei bei ihm Hahn. Unterschiede seien ihm nicht aufgefallen. Warum? Ob das wichtig wäre?

„Wichtig nicht“, sagte ich. „Hat Sönderup sich über diese roten Hähne geäußert? War er wütend? Fühlte er sich bedroht?“

„Wütend war er! Peter, hab’ ich gesagt, nimm das nicht auf die leichte Schulter. Halte die Augen offen, hab’ ich gesagt. Ich will es auch tun. Und...“

So ging es noch eine Weile weiter. Was Peter gesagt hatte... Was er dazu gesagt hatte... Und was Peter wieder darauf antwortete...

Ein Schwätzer! Aber manchmal lohnte es sich, auch einem Schwätzer geduldig zuzuhören.

Ob er Sönderup gut gekannt, mit ihm in guter Nachbarschaft gelebt habe?

In bester Nachbarschaft! Ein prächtiger Mann sei Peter Sönderup gewesen. Ein Mann, mit dem sich über Finanzen reden ließ. Ein Jammer, daß es so kommen mußte. Hatte etwas „an den Hacken“, wenn ich wüßte, was er damit meine: Geld! Und nicht zu knapp! Na ja — vielleicht kein Mensch, der es mit allen Leuten hielt. Aber er und Peter hätten sich großartig verstanden, sich gegenseitig Tips gegeben: Aktien und so... Küppers Stimme wurde immer leiser, als spräche er von Geheimnissen, die man eigentlich nur in geschlossenen Räumen weitergeben durfte.

Nach Aktien sah er mir nicht aus.

„Herr Küppers, ich weiß, daß man ungern Namen ausspricht: Haben Sie einen Verdacht?“

Ich merkte es, obgleich er es geschickt tarnte — die Frage behagte ihm. Er zögerte, pendelte abwägend mit dem Kopf, preßte die Lippen zusammen, spielte mir eine schwere Gewissensentscheidung vor.

„Wenn Sie mich so direkt fragen, muß ich wohl... Ich sag’s nicht gern. Aber wo Sie doch auch nur Ihre Pflicht tun: Nehmen Sie diesen Markus Unschlitt mal unter die Lupe!“ Der erste wollte nichts preisgeben. Der zweite sprach den Namen aus. Ich hätte ihn lieber vom Kollegen Tackert gehört.

Ich faßte nach, wollte Beobachtetes, wollte Tatsachen von ihm. Aber wie ein schleimiger Aal glitt er mir immer wieder durch die Finger.

Ja, Peter Sönderup hätte auch an Markus Unschlitt gedacht. (Gedacht! Einen Toten konnte ich nicht mehr befragen!) Er, Küppers, habe nichts gesehen. Irgendwann mal vor dem Brand einen huschenden Schatten vom Wohnzimmerfenster aus, ja. Kein Gesicht, nichts, um einen Eid darauf zu leisten. (Mit Leuten ohne Gesicht und anderen, die nichts beschwören wollten, hatte ich dauernd zu tun.) In der Brandnacht sei er von der Sirene aus einem festen Schlaf gerissen worden und blitzschnell in die Uniform gefahren. Draußen erst habe er das Schreckliche gesehen: das brennende Nachbarhaus! Seine Schlafzimmerfenster gingen zur anderen Seite. Ein paar Nachbarn, von roten Flammen angestrahlt. Und Christine Sönderup, im Nachthemd, weinend. Peter Sönderup noch im Haus, aber für ihn habe niemand mehr etwas tun können: eine prasselnde Flammenwand, kochende Hitze, Rauch aus zersprungenen Fensterscheiben. Man stand ohnmächtig davor. Dann sei er mit keuchenden Lungen zum Gerätehaus gerannt, um seine Leute zur höchsten Eile zu ermahnen. Seine Pflicht. Drei Wehren in kürzester Zeit zur Stelle und trotzdem zu spät. Nichts mehr zu retten... der elende Wind.

„Herr Küppers, Sie sind Fachmann: Wie lange mag es dauern, bis sich ein Feuer zu einem unlöschbaren Brand entwickelt?“

„Rasend schnell! Strohdach und starker Wind — es dauert keine zehn Minuten, dann lodert das Dach von vorn bis hinten, und in weiteren zehn Minuten ist alles vorbei.“

Ich hatte genug. Nur eine Frage noch, und ich war gespannt, wie er sich dann benahm.

„Herr Küppers, wo waren Sie in der Brandnacht? Ich meine — vor Ausbruch des Feuers?“ Können Sie Zeugen benennen? hätte ich gern hinzugefügt, ließ es aber. Die Medizin reichte ihm auch so.

„W — was..? Ich..? Wollen Sie etwas damit...“ Er war wütend, zitterte beinahe, zischte die Worte heraus. „Wollen Sie mich verdächtigen?“

Ich sagte nichts, ließ ihn schmoren.

„Verdammt noch mal! Was soll das! Ich war bei Sellmer, Anton Sellmer, dem Antiquitätenhändler. Da — da drüben!“ Er schluckte und peitschte mit dem knochigen Zeigefinger in eine Richtung schräg hinter seinem Rücken. „War nicht mal eine Stunde bei ihm, hatten Geschäftliches zu bereden. Sellmer kann alles bezeugen. Dann bin ich durch die Hintertür hinausgegangen — zum Kliff, wenn’s Sie interessiert! Wollte vor dem Schlafengehen die Nase noch mal in den Wind strecken. Danach bin ich ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen. Dagegen gibt’s doch wohl nichts zu sagen, wie?“

Ich hatte eine Rakete unter seinem Hintern gezündet. Sie zischte — gleich brauste sie mit ihm ab.

„Ich begreife Ihre Aufregung nicht, Herr Küppers, das sind Routinefragen, die ich noch mehr Personen stellen muß. Als Chef einer Feuerwehr müßten Sie doch wissen, wie unsere Dienststelle arbeitet...“

Er wollte nach mir schnappen, machte dann aber nur eine ärgerliche Handbewegung, drehte sich um und ging rasch weg.

Als Feuerwehrhauptmann mochte er nicht übel sein. Als Mensch gefiel er mir nicht. —

Über den Wall hinweg schaute ich in einen verwilderten Garten. Vielleicht sah er auch nur um diese Jahreszeit verwildert aus. Ein paar Obstbäume standen mit gebeugtem Rücken im alten Gras. Das Unkraut hatte sich überall hingeschmuggelt. Bei den Johannisbeersträuchern faulten die Reste eines alten Ziehbrunnens vor sich hin. Ein allmächtiger Efeu umklammerte das Haus von drei Seiten — das Nachtasyl für die Tarrafaler Spatzen.

An der Vorderfront tiefsitzende Fenster mit kleinen, quadratischen Scheiben — gut unter Farbe gehalten. Ein mit faustgroßen, runden Kieseln gepflasterter Weg zeigte auf den Eingang. Wie ein grüner Starenkasten zur ebenen Erde klebte der seltsame kleine Holzvorbau an der Mauer vor der Haustür. Er sollte wohl eine Art Windfang darstellen. Hier war die Zeit stehengeblieben.

Immerhin lehnte sich eine Fernsehantenne gegen den Schornstein, und ein paar elektrische Leitungsdrähte führten ins Haus. Daraus schloß ich, daß ich wohl doch nicht bei Petroleumlampenschein meine Notizen machen mußte. Vorausgesetzt, daß die Dame mir überhaupt ein Zimmer vermietete.

Noch bevor ich anklopfen konnte, öffnete sich die Tür. Lene Steenkamp war hager und knochig, mit weißem Haar über einem dreieckigen Gesicht. Dennoch strahlte sie Kraft aus.

„Aha. Der Herr von der Kriminalpolizei.“ Das war keine Frage — sie wußte es. Wieder jemand, der es erriet. Ich erfuhr gleich warum.

„Sie werden es mir nicht Zutrauen: Ich habe ein Telefon! Ihr Kollege Tackert rief mich an und bat, daß ich Sie in meinem Haus unterbringe. Ich habe auf Sie gewartet.“

Sie musterte mich mit Habichtsaugen.

„Und werden Sie mich aufnehmen? Ich bin gewöhnlich kein gern gesehener Gast.“

„Kommen Sie nur herein. Schließlich habe ich Herrn Tackert darum gebeten, daß er Ihnen vorschlägt, bei mir zu wohnen.“ Die alte Frau sagte das so ungeniert, als sei es eine alltägliche Sache, sich Kriminalbeamte ins Haus einzuladen. „Wie darf ich Sie anreden?“

„Mein Name ist Theo Bank“, sagte ich.

„Natürlich Kriminalkommissar?“ meinte sie augenzwinkernd. „Das sind doch die Leute, die alle schwierigen Fälle aufklären müssen.“

„Natürlich Kriminalobermeister!“ korrigierte ich. „Das sind die Arbeitsbienen für die Kriminalkommissare.“

Sie lachte, die Antwort gefiel ihr.

„Man empfängt mich selten so zuvorkommend, wenn ich dienstlich unterwegs bin“, sagte ich, während ich mich im Flur umschaute. Ausgetretene, graue Steinfliesen im Rautenmuster verlegt; Türen mit kleinen, ovalen Gucklöchern, die an Schiffsbullaugen erinnerten; schwere Füllungen, die auf massives Eichenholz hindeuteten; ungewohnte Farben — ein sattes, strahlendes Blau, ein ausgelaugtes Graugrün, ein seltsames Fleischrot.

„Siebzehnhunderteinundfünfzig erbaut und innen fast original erhalten. Steht unter Denkmalschutz“, erklärte Lene Steenkamp. „Was Ihren Empfang angeht: Neugierde! Ganz gewöhnliche Neugierde. In meinem Alter schaut man auf das, was andere tun; selbst erlebt man nichts Bedeutsames mehr. Darum möchte ich einen Jäger bei der Jagd beobachten. —

Wollen Sie noch immer bei mir wohnen?“

„Jetzt gerade!“ antwortete ich.

„Dann will ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Einen Schnaps können wir später zusammen trinken.“

Meistens wohne ich in den genormten Streichholzschachteln der Hotels. Dieses Zimmer war ein Juwel aus Ururgroßmutters Zeiten. Niedrige, unverschalte Balken, olivfarbene Decke mit handgemalten Blumenornamenten, ein wuchtiger Kleiderschrank, der von Profilen strotzte. Auf einer Kommode segelte in einem Glasgehäuse das Modell einer Dreimastbark über Wellen aus Gips. Das Bett war hochbordig und breit wie eine spanische Galeone.

„Hoffentlich verträgt sich antik mit moderner Kriminalistik“, sagte Lene Steenkamp, nachdem sie mir genügend Zeit gelassen hatte, alles mit den Augen abzutasten. „Aber so unmodern, daß Sie sich draußen am Ziehbrunnen waschen müssen, bin ich nicht eingerichtet. Am Ende des Korridors ist ein Badezimmer; Sie dürfen es benutzen. Meine Küche ist auch nicht schlecht. Sie können bei mir essen — als mein Gast. Es reicht für zwei."

Ich konnte meine Verwirrung nicht ganz verbergen. Sie drehte sich noch einmal in der Tür um.

„Machen Sie sich keine Gedanken über meine Polizistenfreundlichkeit. Sie können es gutmachen, indem Sie mir ab und zu abends Gesellschaft leisten. Mein Papagei ist nur ein Notbehelf. Sie wissen: Ich bin neugierig.“

Sie schloß die Tür und ließ mich allein.

Unterkunft. Mittagsgast ohne Bezahlung. Was wollte diese Lene Steenkamp von mir? Was steckte dahinter? Hatte sie selber etwas zu verbergen? Wollte sie jemanden abschirmen? Markus Unschlitt? Oder war sie tatsächlich die neugierige Alte, für die sie sich ausgab?

Bank, dachte ich, paß auf, daß sie dich nicht mit Haut und Haaren frißt...

Ich stellte meinen Koffer in die Ecke und trat an das Fenster. Das Haus gegenüber war nicht alt und schön: Kurz nach der Jahrhundertwende erbaut, schätzte ich. Für die Breite zu hoch, sah es aus, als stünde es auf Stelzen. Das flachgeneigte Pappdach lag wie ein schwarzer Deckel auf einem roten Topf. Die Fenster hatte man gewaltsam in die Länge gezogen und ihnen dann, erschrocken über das Mißverhältnis, einen flachen Bogen aufgestülpt.

Im Haus gegenüber wohnte Markus Unschlitt.